„Unsere größten Ängste sind die Drachen, die unsere tiefsten Schätze bewahren“ R. M. Rilke
Meine Schwangerschaft mit Felix war anders: Von Anfang an war da diese große Angst, dass unsere Geschichte nicht gut ausgeht. Ich habe mich dauernd mit dem Gedanken gequält, dass vielleicht irgendwas nicht stimmt mit dem Kind in meinem Bauch. Dass es ihm nicht gut geht oder es nicht ausreichend versorgt ist. In meinem Kopf kreisten Tag und Nacht dieselben Fragen: Was, wenn es meinem Baby nicht gut geht? Wenn ihm etwas geschieht? Oder wir nicht unversehrt durch diese Schwangerschaft kommen? Was, wenn mein Kind stirbt?
Meine Angst rührte auch von der Erfahrung meiner ersten Geburt her: Als ich unseren ältesten Sohn zum ersten Mal in meinen Armen hielt, da wurde mir schlagartig bewusst, dass mir das Leben nicht gehört. Dass es nicht in meiner Hand liegt. Und dass auch in diesem Fall alles hätte anders laufen können. Was für ein Glück, dass unser Kind lebte und jetzt bei uns sein durfte! Noch nie zuvor hatte ich gespürt, dass Leben und Tod so nah beieinander liegen.
Aber das, was ich in der Schwangerschaft mit Felix erlebte, war etwas anderes: Meine Angst nahm mir die Luft zum Atmen. Sie war meine ständige Begleiterin, übermächtig und eine schwere Last. Es gelang mir nicht, sie einfach abzuschütteln. Also setzte ich mich mit ihr auseinander. Ich versuchte, sie mir vorzustellen. Für mich war sie großer Drache. Furchteinflößend, gefährlich, stets in Habachtstellung. Ein feuerspeiendes Wesen mit der Kraft, alles zu vernichten, das ihm zu nahe kommt. Was sollte ich jetzt tun mit meinem Angstdrachen? Eine Drachentöterin wollte ich nicht sein, dafür mag ich diese Wesen viel zu sehr. Aber zähmen konnte ich ihn viellleicht.
Weil gerade die Fastenzeit begonnen hatte, entschied ich mich, Angst zu fasten. Und es klappte total gut. Immer, wenn mein Drache drohend vor mir stand, sagte ich: „Nein, jetzt nicht. Es ist Fastenzeit.“ Das mag komisch klingen, aber für mich hat es total gut funktioniert: Mein Angstdrache wurde zahm. Manchmal hatte ich in den Eindruck, dass er selbst voller Angst steckte, und nur deshalb so grausam war, um sich selbst vor allem Übel zu schützen. Jetzt war er ganz anders. Wie ein freundliches Haustier. Ich konnte ihn füttern und streicheln. Oft begleitete er mich und ging dann einfach neben mir her. In bestimmten Situationen nahm ich ihn zur Sicherheit an die Leine. Manchmal lehnte ich mich bei ihm an, wenn ich mich ausruhte und mit Felix sprach. Mein Angstdrache wurde zum Mut-Tier: Er schenkte mir und meinem Kind ein paar unbeschwerte Wochen, für dich sehr dankbar bin. Ich war ganz ruhig und entspannt, ohne Angst. Und der Kontakt zu Felix war vertraut und unbeschwert.
Dennoch blieb etwas. Keine Angst. Eher so etwas wie eine Ahnung: Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, blieb. Ich erinnere ich an ein Gespräch mit Felix, in dem ich zu ihm sagte, dass er sich keine Sorgen um mich machen müsse. Dass ich froh war, dass er bei mir war und dass ich die Zeit mit ihm genoss. „Du darfst so lange bei uns bleiben, wie du willst“, sagte ich zu ihm.
Bei der Feindiagnostik stellte sich heraus, dass Felix für sein Alter zu klein war. Es gab außerdem einen Marker in der Durchblutungsmessung, der auf eine mögliche Störung hinwies. Von da an musste ich alle vier Wochen zur feindiagnostischen Kontrolle und alle 2 Wochen zu meiner Ärztin. Der Feindiagonistiker riet mir zu mehr Ruhe. Ich solle außerdem viel trinken und meinem Kind gut zureden, das könne schon helfen, damit sich alles beruhigt. Ansonsten müssten wir überlegen, Felix früher zu holen, da er dann außerhalb meines Bauches besser versorgt sei. Für mich klang das damals alles viel zu positiv, als dass ich mir dabei irgendetwas gedacht hätte. Ich befolgte den Rat des Experten und verbrachte mehr Zeit auf dem Sofa. Ich trank viel und redete mit meinem Kind. Und das half tatsächlich: Bei der nächsten Untersuchung war Felix mit seiner Körpergröße im Normalbereich und der Störungswert war bis auf einen kleinen Rest verschwunden. Jetzt dürfe mein Kind selbst enscheiden, wann es zur Welt kommen wolle, sagte der Arzt.
Ich war beruhigt. Nie und nimmer hätte ich in diesem Moment gedacht, dass meine schlimmste Angst wahr werden würde.
Zwei Tage, bevor Felix starb, träumte ich, dass ich mein Kind tot zur Welt bringen würde. Es war ein surrealer Traum. Er machte mir keine Angst. Aber eine Ahnung blieb, auf etwas zuzugehen, das ich nicht vorhersehen konnte.
Als ich wusste, dass Felix nicht mehr lebt, da war mein Drache da. Er lag neben mir, als ich am Boden war. Er schmiegte sich an mich und legte seinen Kopf in meinen Schoß. Und während ich um mein Kind weinte, kullerten dicke Drachentränen aus seinen Augen.